HEIDELBERGER WESTSTADT
IM WANDEL

„Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm“ – frühkindliche  Erziehung im Kath. Kindergarten Sankt Hildegart, ein lückenhafter Beichtzettel, Sammeltassen zum Weißen Sonntag, das Pfadfinderinnen- Leben…. persönliche Erinnerungen, eingebettet in die gesellschaftlichen Verhältnisse und Moralvorstellungen der Nachkriegszeit.

Meine ganz persönlichen Erfahrungen mit dem Katholizismus – als katholisches Mädchen in den fünfziger- und sechziger Jahren

von Angelika Zeller

 Ich wurde vom ersten Tag meines Lebens mit dem Katholizismus konfrontiert. Schon bei meiner Geburt war ich umgeben vom katholischen Geist, denn ich erblickte in der Privatklinik Sankt Elisabeth, damals noch in unmittelbarer Nähe des Heidelberger Schlosses, das Licht der Welt. Wohlbehütet kam ich in das Haus meiner Großeltern, die dort direkt am Römerkreis die Gaststätte „ Zur Lokomotive“ betrieben. Die Wohnverhältnisse waren beengt, zusammen mit meinen Großeltern bewohnten meine Eltern und ich die Drei -Zimmerwohnung im ersten Obergeschoss. Das zweite Oberschoss war an das Ehepaar St, im Alter meiner Großeltern vermietet, oder zur Verfügung gestellt, das lässt sich heute nicht mehr klären. Die Geschichte dahinter konnte ich erst 2021 recherchieren: Frau St. war die von der Entnazifizierungsbehörde eingesetzte Zwangsverwalterin der Gaststätte meines Großvaters, welchen Deal er mit Frau St. geschlossen hatte um seine Kneipe alleinig weiterzubetreiben bleibt im Dunkeln. ( Weitere Infos hierzu siehe: Angelika Zeller ,Opa Willi, die Lokomotive und der Alte Güterbahnhof, 01/2021)

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen, ein paar Schlaglichter:

  • Ausgeprägter Antikommunismus
  • „die Amis“ waren „unsere Befreier“ und sind fortan „ unsere“ Beschützer
  • Entnazifizierung fand nur minimal statt, in Politik, Forschung, Lehre und Verwaltung gab es kaum Veränderungen
  • Die Zeit des Nationalsozialismus wurde totgeschwiegen
  • Wiederaufbau, Konsumorientierung beherrschten die Medien

Diese Atmosphäre beeinflusste latent mein Familienleben und es kam ein weiterer für meine Kindheit und Jugend prägender Faktor hinzu: Der Katholizismus:

Mutter katholisch, Vater evangelisch, eher unüblich für die damalige Zeit, die katholische Kirche sah in interkonfessionellen Ehen gar „ ein fürchterliches Übel“. Bei der Eheschließung wurden meine Eltern verpflichtet, ihre Nachkommen katholisch zu erziehen.

Und von dieser katholischen Erziehung habe ich jede Menge abbekommen, dazu später.

Normen und Werte der fünfziger- und frühen sechziger Jahre hatten klare Rollen- Festlegungen, zum Nachteil der Frauen.

Ehe und Familie galten als das höchste Ideal. Alleinstehende waren mit einem „Makel“ behaftet und wurden kritisch beäugt.

Bis zur Heirat wurden unverheiratete Frauen mit „ Fräulein“ angesprochen, das galt auch für amtliche Schreiben. Im Namensrecht galt automatisch der Vorrang des Namens des Mannes.

Als Norm galt die Hausfrauenehe. Bis 1957 konnten Frauen nur mit Zustimmung des Mannes eine Arbeitstätigkeit aufnehmen, dann gab es eine Gesetzesänderung des BGBs: „ Sie, die Frau, ist berechtigt erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist“ Das galt übrigen bis 1977. Nebenbei bemerkt: Vergewaltigung in der Ehe stellte keinen Straftatbestand dar.

Gleichgeschlechtliche Beziehungen galten als verpönt, waren abartig und wurden strafrechtlich verfolgt. Bei der Gründung der BRD 1949 wurde der § 175 STGB, geschaffen im Kaiserreich übernommen.  „Unzucht“ zwischen zwei Männern wurde mit bis zu 10 Jahren Zuchthaus geahndet. Repressionen für gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Frauen gab es übrigens nicht ( die Gesellschaft war Männer dominiert)

Die Sexualmoral der Nachkriegszeit war äußerst rigide, besonders die der katholischen Kirche:

Geschlechtsverkehr nur in der Ehe, da aber Pflicht!  Die Ehe war unauflöslich, nur der Tod eines Ehepartners konnte sie beenden. Geschiedene katholischen Glaubens wurden von den Sakramenten ausgeschlossen, künstliche Empfängnisverhütung war verboten.

Diese Kurzdarstellung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen soll hier genügen. Sie spielten eine wesentliche Rolle für den emanzipatorischen Prozesses, der Ende der sechziger Jahre begann und auch meine Entwicklung prägte.

Meine Kindheit

Die gesellschaftliche Rollenverteilung gab es auch in unserem Haus:
Mein Dad war der Alleinverdiener, brachte das Geld nach Hause. Die eigentliche Herrscherin jedoch war meine Mutter, zumindest unter der Woche, denn mein Dad arbeitete sehr oft auf Montage und kam daher nur am Wochenende, manchmal auch nur alle zwei oder drei Wochen nach Hause.

Natürlich war meine Mutter Hausfrau, was anderes wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Für sie war der perfekte Haushalt wichtig, großen Wert wurde auf die Zubereitungen der Mahlzeiten gelegt und das Einhalten der Essenszeiten. In Erinnerung geblieben sind Vorsuppen und Blumenkohl . Vorsuppen gab es zu jedem Mittagessen. Sie wurden gleich für drei Tage gekocht und standen im Winter draußen auf der Fensterbank. Einen Kühlschrank hatten wir erst viel später. Von Tag zu Tag schmeckte die Suppe ekliger, besonders unappetitlich fand ich Reissuppe an Tag zwei und drei, wenn die gekochten Reiskörner immer mehr aufquollen und das Suppengrün zum Suppengrau wurde. Aber die Suppe musste gegessen werden, ebenso wie mein Hassgemüse Blumenkohl. Ich musste so lange am Tisch sitzenbleiben bis der Teller leer war, auch wenn das schon mal locker eine Stunde dauern konnte. Es galt : „ was auf den Tisch kommt wird gegessen“ basta. Manchmal auch der Nachsatz, „im Krieg wären wir froh gewesen“.

Meine frühe Sozialisierung im Katholizismus begann im katholischen Kindergarten Sankt Hildegard. Hier hatte Schwester Galena das Sagen, schon ihr Habit verkörperte Autorität. Der Kindergartentag begann mit einem Morgengebet, freies Spielen gab es nur in den Pausen auf dem Hof, ansonsten musste mit dem gespielt werden, was Schwester Galena uns anbot. Gebetet wurde auch zum Ende des Kindergartenmorgens, zum Mittagessen wurden wir Kinder von einer Erzieherin nach Hause gebracht, heute unvorstellbar. Die Route ging vom Kindergarten in der Hildastraße über die Ringstraße, den Römerkreis bis in die Bergheimerstraße.

Eines der Gebete hat sich in meiner Erinnerung eingeprägt: „ Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm“. Doch nicht nur der Kindergarten war religiös prägend. Meine Mutter steckte mit den „Frommen“ irgendwie unter einer Decke. Sie bekundete mir gegenüber immer wieder, dass jedes Kind einen „Schutzengel“ habe, der aufpasse, dass dem Kind nichts passiert. Diese „Schutzengel mit überdimensionierten Flügeln hatten es sogar auf Leinwände geschafft, in Erinnerung das großformatige „Kunstwerk“ im Schlafzimmer der Großmutter. So ein Beschützerengel sollte mir eigentlich ein gutes Gefühl geben, wenn da nicht der Nebensatz meiner Mutter gewesen wäre, der da lautete: „ dein Schutzengel berichtet mir immer, wenn du etwas verbotenes tust“. Hieß im Klartext, diesen doofen Engel, den man nicht loswird, nicht sehen und auch nicht bestechen kann, klebt irgendwie über mir, unsichtbar versteht sich. Mir machte das solche Angst, dass ich nachts von Engeln träumte, Engeln mit riesigen Flügeln, die auf der Türklinke saßen und ich nicht mehr aus dem Raum kam, eingesperrt, ausgeliefert.

 Mein schlimmstes Kindergartenerlebnis war mein Streit mit Edeltraud. Sie wohnte in der gleichen Straße, hatte strohblonde Locken und war mindestens einen Kopf größer als ich. Edeltraud saß an einem der Kindergartennachmittage neben mir, als wir auf Anweisung von Schwester Galena Blumen malen sollten. Meine Zeichnung war, so fand ich, gut gelungen, ich zeigte sie ihr und was machte die blöde Kuh, sie kritzelte mit einem schwarzen Stift über mein Kunstwerk. Das erzürnte mich derart, dass ich ihr in die Nase biss. Der Biss muss wohl so fest gewesen sein, dass man die schreiende Edeltraud umgehend zur Kinderärztin brachte. Ich wurde fürs erste in die Ecke gestellt. Die gestrenge Nonne ordnete einen Stuhlkreis an, in dem alle Kinder Platz nahmen. Ich wurde in die Mitte gesetzt. Mit einem roten Schal wurde mir der Mund zugebunden. Dann erzählte Schwester Galena, dass ich ein ganz böses Mädchen sei und ganz bestimmt nicht in den Himmel kommen würde. Was sie sonst noch alles verkündete, ist mir nicht in Erinnerung geblieben.

Grundschulzeit

Während der Grundschulzeit in der Landhausschule ( Mädchenschule, streng getrennt von der Jungenschule ) entwickelte ich ein gesteigertes Interesse am religiösen Geschehen. Katholischer Religionsunterricht bei Fräulein Adler fand ich toll. Selbst die in lateinischer Sprache gehaltenen Sonntagsmessen faszinierten mich. Die Gottesdienstbesucher*innen saßen nach Geschlechtern getrennt, vom Altar aus gesehen, die Herren links und die Damen rechts. Besonders faszinierten mich die Messdiener und ich wäre so gerne Messdienerin geworden, ging nicht, das fand ich ebenso schade wie die Tatsache, dass Mädchen nicht im Verein Fußball spielen durften.

Ich kompensierte dies damit, dass ich in unserer Gartenwirtschaft an den Ruhetagen am Mittwoch einen Altar aufbaute und Messdienerin spielte.

In die Zeit der Vorbereitung auf die „Erste heilige Kommunion „ fiel die erste Beichte. Ein für mich nicht fassbares Geschehen. Ich empfand die Beichte als eine Verpflichtung, die abgearbeitet werden musste, denn „sündig“ wollte ich ja nicht „zum Tisch des Herrn“ gehe. Wir bekamen einen Beichtspiegel, eine Anleitung zur Gewissenserforschung. Es wurde unterschieden zwischen lässlichen und schweren Sünden. Die Erforschung meines Gewissens, wann ich gegen das Gebot „ Du sollst Vater und Mutter ehren“ verstoßen hatte, fiel nicht schwer, da kam schon einiges zusammen, was ich beichten konnte, aber was sollte ich an „unkeuschen Gedanken und Handlungen „ beichten???? Leider klärte uns hierüber die Religionslehrerin nicht auf und auch Stadtpfarrer Velten, der den zweimal die Woche stattfindenden Religionsunterricht abhielt schwieg dazu. So blieb mein Beichtzettel in diesem Punkt leer.

Zur Beichte vor der Erstkommunion traten alle Mädchen der Kommunionsgruppe gemeinsam an. Wir saßen in den Kirchenbänken vor dem hölzernen Beichtstuhl und achteten darauf, wie lange jedes Mädchen im Beichtstuhl blieb, unter der Prämisse: je länger desto sündiger. Ob ich meinen Beichtzettel gekürzt habe, weil ich nicht als besonders sündig dastehen wollte, weiß ich nicht. Komischerweise fühlte ich mich nach der Beichte und dem „ Vergeben der Sünden“ nicht anders als davor, ich absolvierte meine auferlegte Buße, das Beten von drei „ Vater unser“ und wartete geduldig, bis alle mit der Beichterei fertig waren, denn erst dann durften wir die Kirche verlassen.

Besondere Faszination hatte der Gottesdienst vor den Fronleichnamsprozessionen. Hier gab es ein Großaufgebot von Fahnen unterschiedlichster Gruppierungen, von den Pfadfinderinnen, zu denen ich auch bald gehören sollte, bis hin zu den Studentenverbindungen, die mit Stiefeln und Uniformjacken besonders herrschaftlich wirkten.

Eine Fortsetzung der religiösen Erziehung lieferte das Raphael. Es war die Bildungsanstalt für katholische Mädchen in den sechziger Jahren. Ich besuchte die Realschule, weil die vorherrschende Meinung in meiner Familie die war, dass Mädchen ja so oder so für die Ehe und Familie bestimmt seien und deshalb eine „mittlere „ Bildung ausreichend sei. Gebetet wurde im Raphael zum Unterrichtsbeginn und zum „ Engel des Herrn“ pünktlich um 12:00 Uhr; Schulgottesdienst war verpflichtend, bei Fehlen gab es einen Klassenbucheintrag und am Samstag ( damals ging man auch am Samstag noch zum Unterricht ) eine Rüge von Schwester Wilfrieda, der Rektorin. Hosen zu tragen war selbst in eiskalten Wintern nur bis zur Eingangspforte der Schule möglich, dann musste ein Rock über die Hosen gezogen werden. Die Länge der Röcke in der Minirockzeit war festgelegt, der Rocksaum musste das Knie umspielen. Neben den Kernfächern wurde Handarbeiten unterrichtet , nicht etwa als Wahlfach, nein, es war Pflichtfach auf der gleichen Stufe wie Mathe. Im Geschichtsunterricht wurde uns das Bild des  ungläubigen Russen“ eingehämmert. Zu Weihnachten verschickten wir Päckchen für die „hungernden“ Brüder und Schwestern in der „Zone“.

Die PSG

Nach dem „ Weißen Sonntag“ ( Erstkommunion ) der als Familienfest mit Mittagessen, Kaffee und Kuchen und der für die damalige Zeit üblichen Aufschnittplatte zum Abendessen gefeiert wurde, durfte ich endlich zu den Pfadfinderinnen. Für mich bedeutete das raus aus dem kleinbürgerlichen Mief- ein Stück Freiheit.

 Die Pfadfinderinnenschaft Sankt Georg ( PSG)- reiner Mädchenverband

Gliederungen der PSG:

Wichtel von 6 – 12 Jahre :Kluft : dunkelblauer Rock, weiße Bluse, gelbes Halstuch, hellblaues Käppi mit dem Symbol des Kleeblattes mit gelbem Kreuz

Pfadfinderinnen 12 – 16 Jahre: Kluft: dunkelblauer Rock, blaue Baumwollbluse ( einheitlich ) blaues Halstuch, brauner Ledergürtel mit Spange, dunkelblauer Hut ( ähnlich dem eines Cowboyhutes )

Ranger : von 16 Jahren – ?

Die Kluft vermittelte ein enges Zusammengehörigkeitsgefühl. Um diese tragen zu dürfen, musste ein Versprechen abgelegt werden. Die Versprechensfeier war eingebunden in einen Gottesdienst. Hier legte die angehende Pfadfinderin ihre Hand auf die Mitte des Banners und sprach folgendes Versprechen:

Und die Pfadfinderinnen hatten Gesetze, die wir natürlich auswendig lernten :

Anmerkung: Es muss natürlich heißen: Die Gesetze der Pfadfinderinnen, nicht die „Gesetzte“, wohl ein Bespiel dafür, dass die Begrifflichkeiten den Kindern nicht erklärt wurden, aber was wurde schon erklärt? Wir haben zu dieser Zeit auch nicht hinterfragt, sondern auswendig gelernt. Willig zu gehorchen lernten wir im Elternhaus und in der Schule, es war uns vertraut, doch das 10. Gesetz „ Die Pfadfinderin ist rein in Gedanken, Worten und Werken“ blieb ebenso scharmbehaftet wie der entsprechende Punkt im katholischen Beichtspiegel : „Scharmhaftigkeit und Keuschheit.

Das Banner:

Kam immer dann zum Einsatz, wenn die Pfadfinderinnen öffentlich in Erscheinung traten, an Fronleichnam beispielsweise, hier ragte das  Banner der Pfadfinderinnen, neben dem der männlichen Brüdern im Geiste der DPSG , sowie der KJG, neben den Ehrenstandarten der schlagenden katholischen Verbindungen zuerst am Altar des Gottesdienstes in die Kuppel  der Pfarrkirche Sankt Bonifatius. Danach führte es in der Prozession die Gruppe der Wichtel, Pfadfinder und Ranger an.

Rituale:

Der Pfadigruß: „Gut Pfad“ und dazu die rechte Hand in Kopfhöhe gehoben, dabei den Daumen über den kleinen Finger gelegt und die mittleren Finger senkrecht in die Höhe.

Verabschiedung: am Ende eines Tages, am Lagerfeuer und beim Verabschieden nach Großereignissen, wie Lagern. Alle standen im Kreis, kreuzten die Arme vor dem Körper, reichten die gekreuzten Hände den Nachbarinnen. Dazu sangen wir : „Nehmt Abschied Freunde ungewiss „ ( Gendern war noch lange nicht angesagt)

Gruppenstunden: einmal wöchentlich , etwa zwei Stunden. Sie begannen mit einem Gebet oder einem besinnlichen Text, danach wurde ein Programm, das die Führerin vorbereitet hatte, abgewickelt, eine Mischung aus Belehrendem ( Pflanzenbestimmung, Sternzeichen, Knotentechniken usw. ) und Spielen. Beliebt waren Bewegungsspiele im Freien wie „ der Kaiser schickt seine Soldaten aus“, Fischer wie tief ist das Wasser“.. und Pfänderspiele. Es gab ein reichhaltiges Repertoire an Liedern: Wildgänsen, die durch die Nacht rauschten, bunte Fahnen, die wehten, Zelte, die jenseits des Tales standen. Besonders stimmungsvoll war das Abschiedslies „ Nehmt Abschied Freunde ungewiss“ Hierzu wurden die Hände vor dem Körper gekreuzt und der Nebenstehenden gereicht.

Lager:  Einmal im Jahr gab es ein Stammes- Lager, vierzehn Tage, in einem Selbstverpfleger*innen Haus , mit Geländespielen, Lagerfeuer Lagergegenstände bauen, Nachtwanderungen  und Mohrenkopfwettessen. Hieß damals noch so. Die Schokoküsse brachte der Stammeskurat Ludwig Bopp mit, der vor dem Großereignis erst mal einen Gottesdienst mit den Pfadfinderinnen, alle in Kluft feierte. Für die Wichtel gab es Wochenendfahrten in eine Jugendherberge der Umgebung.

Einschätzung aus heutiger Sicht: Die PSG war ein katholischer Freizeitverband, der mit seinem Programm Kindern und Jugendlichen der Nachkriegszeit und der ersten Hälfte der sechziger Jahre Möglichkeiten der Geselligkeit unter Gleichaltrigen bot, großen Wert auf Gemeinschaft legte und bereits in bescheidenem Rahmen Inklusion versuchte. „Pfadfinderin trotz allem“ war das Schlagwort. Im Stamm Sankt Bonifatius hatten wir lange Zeit in der Gruppe ein blindes Mädchen.

 Die PSG hatte, wie alle anderen katholischen Jugendverbände Reproduktionsfunktion: Getaufte Kinder und Jugendliche, über Kommunion und Firmung als nachwachsende Kirchenmitglieder durch gezielte Freizeitarbeit einzubinden und gehorsame Staatsbürger*innen aus ihnen zu machen; von „dienen“ ist die Rede, nicht von mitgestalten.

Meine Mutter war zwar grundsätzlich der Meinung, dass die Pfadfinderinnenarbeit gut war, sie zeigte jedoch in den folgenden Jahren immer mehr Skepsis an den Wochenend- und Sommeraktivitäten.

Was wir in den Gruppenstunden und bei sonstigen Treffs besprachen, was uns bewegte, von all dem erzählte ich zuhause nichts. Wenn ich zu einer Veranstaltung wollte, wie beispielsweise einer Silvesterparty und genau wusste, dass ich hierfür nicht das ok. meiner Mutter bekommen würde, war ich erfinderisch und ließ mir eine passende Lüge einfallen. In Sachen Silvesterparty ging die so: Ich gehe zu meiner Cousine Gabriele feiere dort Sylvester. Das ließ sich zu der Zeit unkontrolliert machen, da die beiden Familien, wegen des Erbes nicht gut aufeinander zu sprechen waren, also war auszuschließen, dass es zu einem Kontrollanruf kommen würde. Um die Glaubhaftigkeit des Planes zu unterstreichen, begab ich mich nach durchfeierter Silvesternach tatsächlich zu meiner Cousine, wir schnappten ihre Skier und liefen vom Pfaffengrund nach Wieblingen um dann auf dem Kohlhof Ski zu fahren. Müde wir beide waren wurde aus dem Skifahren nicht viel, statt dessen saßen wir in der Kneipe und warteten bis es Zeit war nach Hause zu gehen.

 

Radtour 1968

Im Sommer 1968 planten wir eine 10 – tägige Radtour von Heidelberg nach Basel und wieder zurück .Es war sonnenklar für mich, dass ich dazu niemals das häusliche o.k bekommen würde. Da musste ein andere Plan her. Phantasie war gefragt und so konstruierte ich folgende Geschichte:

Parallel zu unserer Radtour fand eine Kinderfreizeit in Hörlebach im schwäbischen statt. Mit den Betreuerinnen dieser Freizeit verstand ich mich gut und weihte sie in meinen Plan ein. Ich würde pro forma als Helferin mit auf diese Freizeit fahren, das konnte ich meiner Mutter gegenüber verkaufen. Die Hörlebach-Betreuerinnen mussten für mich nicht mehr tun, als von einer Vorbereitungstour eine Postkarte mitzubringen, die ich dann mit dem üblichen, was man so schreibt ausfüllte und ihnen mitgab. Die Karte kam auch pünktlich bei uns zuhause an, während ich vergnügt auf Radtour war. Der Plan war aufgegangen, dachte ich. Ein Fahrrad wurde mir von meiner Freundin Marianne zur Verfügung gestellt, die Knete für das Unternehmen lieh ich mir zusammen, ein bisschen Taschengeld von zuhause gab es auch für meinen Einsatz in Hörlebach.

Der Haken an der Sache war nur der, dass ich bei der Abfahrt am Pfarrheim von Brigittes Mutter gesehen wurde. Brigitte R. gehörte auch zu unserer Pfadfinderinnengruppe, sie war der Inbegriff eines braven Mädchens, durfte und wollte wahrscheinlich auch nicht mit auf die Radtour.
Mama R. hatte nichts besseres zu tun, als noch am gleichen Tag zu meiner Mutter zu rennen. Vermutlich ist sie so aufgetreten (Anmerkung: die Dame war stattlich und hatte ihr Haar zu einem Dutt gesteckt): „Rösel, ich hatte geglaubt, dass deine Tochter auf der Kinderfreizeit ist, aber stell dir vor, ich habe sie heute Morgen gesehen, wie sie vor dem Pfarrheim mit der ganzen Gruppe zur Radtour aufgebrochen ist.“

Wahrscheinlich hat es meiner Mutter erst einmal die Sprache verschlagen. Dann wird sie wohl gestammelt habe, dass ich doch heute Morgen mit dem Rucksack aus dem Haus gegangen  und auf der Kinderfreizeit in Hörlebach sei. Ich hatte 10 Tage Radtour-Freiheit und danach Mords Stress.

Glücklich und zufrieden kam ich, braungebrannt nach der Tour mit dem gleichen Rucksack, mit dem ich gegangen war, wieder zuhause an und erzählte begeistert von den Kleinen, der schönen Jugendherberge im Landturm. Meine Mutter mit versteinerter Miene konfrontierte mich mit meiner Lüge. Erklärungsversuche, warum ich zu diesem Mittel gegriffen hatte, waren erfolglos, sie fühlte sich -aus heutiger Sicht- zurecht hintergangen und betrogen.

Ich fühlte mich damals als Siegerin, die 4 Wochen Hausarrest waren schmerzlich, aber das war es mir wert, so hatte ich auch genug Zeit, die Fahrt zu dokumentieren.

Die späten 60 Jahre

Die gesellschaftlichen Umbrüche machten vor den Toren der Kirchengemeinde Sankt Bonifatius nicht halt.

 Kommunalpolitische Themen, wie die geplante Erhöhung der Fahrpreise bei der HSB im Sommer 1969 wurden in der KJG diskutiert und einige Mitglieder mischten aktiv im Protest der vorwiegend vom SDS betrieben wurde mit, beteiligten sich an Demonstrationen und der Organisation des „ Rot- Punkt“ Verkehrs. Die Beschäftigung mit dem Krieg der USA in Vietnam zog die grundsätzliche Frage nach Ausbeutung und Unterdrückung in den sog.“ Dritte Welt  Ländern“-nach sich. Ganz neue Themen wurden die Gruppenstunden der 15 bis 16 jährigen diskutiert. Als die  Studentengemeinden ( ESG und KSG ) über die Weihnachtsfeiertage einen Hungerstreik vor der Jesuitenkirche gegen den Konsumterror in den Metropolen und den Hunger in der restlichen Welt organisierten, waren BDKJler*innen mit dabei, was durchaus bei der Elterngeneration für Konfliktstoff sorgte. Manch Gottesdienstbesucher*in der ein Flugblatt mit Slogans wie „ Spenden beruhigen das Gewissen und verschleiern die politischen Hindergründe“ gereicht wurde, beschimpfte die Aktivist*innen.

Große Empörung gab es bei den weiblichen KJGlern als Papst Paul VI seine Enzyklika „ Humane Vitae“ verkündete. Spätestens jetzt war es vorbei mit dem unbedingten bis dahin zur Gewohnheit gewordenen Gehorsam gegenüber der Amtskirche. Es begann eine Auseinandersetzung mit Strukturen und Dogmen der katholischen Amtskirche und neuen Theologischen Ansätzen, die aus Lateinamerika kommend auch die Weststadt erreichten. Geradezu verschlungen wurden Schriften von Leonardo Boff und Gustavo Gutierrez, die in der Theologie der Befreiung , die die Kirche als Verteidiger*in der Menschenrechte für die Armen sieht und die Übernahme politischer Verantwortung aus dem befreienden Geist des Evangeliums herleitete. Mit der Gründung von Solentiname durch Ernesto Cardenal kam der Begriff „Basisgemeinde“ in die Diskussion

Auf einem Bundeskongress schlossen sich die Jugendverbände KJG ( katholische Jungmännergemeinschaft und KFG ( Katholische Frauengemeinschaft ) zu einem Verband unter dem Namen Katholische Junge Gemeinde ( KJG ) zusammen. Für die katholische Jugendarbeit in der Weststadt war das das Startsignal für umfängliche Änderungen. Der neuformierten KJG schloss sich die PSG an, in der schon seit einiger Zeit über die überkommenen Rituale wie Kluft und Fahnenapell diskutiert und der Ruf nach koedukativer Arbeit lauter wurden.

Aus Führer*innen wurden Gruppenleiter*innen, die Lager zu Freizeiten und die Ziele der Jugendarbeit veränderten sich. Ein dialogischer, problemorientierter Bildungsansatz hielt Einzug in den BDKJ. In der gemeinsamen Gruppenleiter*innenrunde wurde die erste koedukative Kindergruppe bereits im Herbst 1970 gegründet. Im Bereich der Jugendarbeit standen große Veränderungen an, die ausgiebig diskutiert und nach Erkenntnissen der Pädagogik abgewogen wurden. Die Gruppenstunden sollten passe sein und mit einem neuen Konzept dem CIZ ( Club und Informationszentrum) neue Wege gegangen werden.