Ausführlicher Text zur Endnote 19, zitiert sind die gefetteten, kursiven Textteile
Die folgenden persönlichen Erinnerungen beanspruchen nicht den Anspruch auf objektive Wiedergabe von historischen Abläufen. Diese Erinnerungen mögen stellenweise als übertrieben und einseitig erscheinen. Sie haben sich in dieser Weise stark in das persönliche Gedächtnis eingegraben. Sicherlich gibt es gleichaltrige Zeitzeugen, die diese Zeit völlig anders erlebt hatten.
Wolfgang Gallfuß
Mit 14-15 Jahren wechselte der „Katholische Jungmann“ von der Jungschar in die „Katholische Jungenschaft“, mit ca. 17, 18 Jahren schließlich in die Katholische Jungmannschaft. Besonders motivierte Jugendliche werden zudem in den „Führerkreis“ aufgenommen, dem Leitungsorgan der männlichen, katholischen Jugend auf der Ebene der Pfarrgemeinde. Der Werdegang durch die „Gliederungen“ der KJG und die übernommene Verantwortung wird im „KJG-Ausweis“ dokumentiert.
Die biographischen Wege und Interessen der 15/16 Jährigen laufen aber häufig auseinander. Die Zahl der aktiven jungen Männer in der Jungenschaft (ab 15 Jahren) nahm ab. Die Klage über das abnehmende Interesse an den Angeboten für die heranwachsenden männlichen Jugendlichen zieht sich deswegen über die Jahre hinweg durch die penibel abgefassten Protokolle der Gruppensitzungen der jungen Männer:
Ende der 50 er Jahre: akkurate Protokolle der Sitzungen der Katholischen Jungmannschaft
Kulturwandel, auch in den Protokollmitschriften ab Mitte der 60er Jahre
Deshalb vermischten sich ab Mitter der 60er Jahre die Treffen der Jungenschaft, der Jungmannschaft und es blieb irgendwann der „Führerkreises“ als Leitungsgremium für die Gruppenarbeit und als sozialer Treffpunkt der etwas älteren Jugendlichen übrig.
Gruppenführer waren junge Männer ab 15 Jahre. Sie wurden in der Regel durch den „Pfarrleiter“ der KJG ausgewählt. Das war wiederum ein noch etwas älterer junger Mann (aus der Jungmannschaft), so ab 18-19 Jahre alt. Gemeinsam mit dem Jugendkaplan verantwortete er die Leitung des wöchentlich stattfindenden „Führerkreises“. Er kristallisierte sich als das wichtigste Treffen der heranwachsenden männlichen Jugend heraus.
Treffpunkt ist meist die Nebensakristei der Bonifatiuskirche. Dort werden nicht nur die „laufenden“ Geschäfte der KJG besprochen und vorbereitet. Zum „Standardprogramm“ gehörte neben der Vorbereitung von Jungscharrunden, Ferienlager, Gemeindefesten, Tanzabende – später „Beatabende“ auch Auseinandersetzungen über tagesaktuelle, politische und theologische Themen.
Wirtshaustreffen im „Katholischen Bahnhof“, ehemalige Gaststätte zum Wilhelmsplatz. Mit mehreren Runden „Stiefeltrinken“ (derjenige, der den Stiefel leertrank, verdonnerte den Vorletzten zur nächsten Stiefelrunde…) wurde das Wochenende eingeläutet. Krönender Abschluss des Freitagabends ist die gemeinsamen Autogaudifahrt über den Heidelberger Straßenstrich, der sich damals vor allem auf dem Alten Messplatz abspielte. Die besonders mutigen katholischen Jungmänner wagten sich hin und wieder auch noch ins „Puff“ am Alten Güterbahnhof. Natürlich nur zum „gucke“.
Samstagsabends traf man sich erneut. Einer hatte immer ein Auto zur Verfügung zur mehrmaligen Rundfahrt über die „Heidelberger Idiotenrennbahn“, vulgo: Hauptstraße. Anschließend gemeinsames versacken bei einem Beatabend in irgendeinem katholischen Gemeindehaus.
Am Sonntagmorgen aber, wenn wieder eine politische Aktion vor der Kirche anstand, standen die meisten „Führer“ trotzdem auf der Matte.
Der„Führerkreis“ hatte eine enorme Bedeutung für die Entwicklung der jungen Männer. Engagement war gefragt, Verantwortung wurde übernommen, „fragwürdiges“ Freizeitvergnügen gehörte natürlich auch dazu. Aber was soll`s: Der Katholik hat ja immer die Beichte als letzte Rettung….
Bis ca. Mitte der 60 er Jahre ist die politische Hauptausrichtung des „Führerkreises“ traditionell und konservativ. Wer es als junger Mann bis in den „Führerkreis“ geschafft hatte, von dem wurde dann auch politisches Engagement, vorzugsweise in der Stadtteil-CDU erwartet. Diese Erwartung wurde von einigen erfüllt, einer schaffte es dann sogar, CDU- Landesminister für Wirtschaft in Brandenburg zu werden. Leider folgte dann sein kapitaler Absturz (Siehe hier und hier)
Die zur Jugendphase gehörende „Rebellion“ fand in den frühen 60 er Jahren in den damals „zugelassenen“ zeitgemäßen Formen statt. Bei Gemeindefesten bis Mitte der 60 er Jahre traten die jungen Männer (meist Jahrgang 1942-1948) des „Führerkreises“ als Songgruppe „Die Babysitter von St.Bonifaz“ bei Gemeindefesten auf und kommentierten lustig und kritisch das Gemeindegeschehen. Der Kaplan hielt eine Büttenrede zu Fasching. Bei den Gemeindefesten durfte geschwoft werden, auch die Geistlichkeit hatte ihren Spaß dabei. Alles verlief im geordneten Rahmen.
Die thematische, politische Ausrichtung der „Führerkreise“ änderte sich ab Mitte der 60 er Jahre. Es fand ein Generationenwechsel statt. Nun wurden im Führerkreis mehrheitlich die Jahrgänge ab 1950 aktiv. Die jungen Männer, die nun ab ca. 1965/1966 im Führerkreis Verantwortung übernahmen, waren 15/16 Jahre alt und öffneten sich natürlich auch den gesellschaftlichen Umbrüchen der beginnenden „68er Jahre“, die das öffentliche Geschehen stark beeinflussten.
Die alterstypische kritische Auseinandersetzung von 15,16 jährigen Jugendlichen mit „sich“ und der Welt“ trifft nun auf eine gesellschaftlichen Background, der sich ganz wesentlich von den 50er und frühen 60er Jahre unterschied.
Die politisierenden gesellschaftlichen Themen der Jugend-und Studentenbewegung wirkten auch in die katholische Jugend hinein: Auseinandersetzung mit dem dritten Reich und der Rolle der Elterngeneration und die Haltung der Kirche in dieser Zeit, die sich zuspitzenden internationalen und militärischen Konflikte (Vietnam, Lateinamerika, Elend in der Dritten Welt…), die Rolle, die unsere „Schutzmacht“ US-Amerika dabei spielt Fragen nach der Berechtigung von Gewalt in politischen Auseinandersetzungen, usw.usf.
Nun standen zunehmend „gesellschaftspolitische“ Themen, auch theologische Konzepte der gesellschaftskritischen, lateinamerikanischen Befreiungstheologie auf der Tagesordnung des Führerkreises oder bei auch bei den Gesprächsrunden im, mit beeindruckend vielen Bücherstapeln gefülltem Zimmer des Jugendkaplans Bopp in der „Wohngemeinschaft“ des „Oratoriums Philipp Neri“, vulgo auch Pfarramt genannt.
„Die Besprechungsrunden beim Jugendkaplan Bopp waren sehr anregend und motivierend. Er hatte immer wieder irgendeine neue Schrift oder ein Buch dabei, wo es um die lateinamerikanische Befreiungstheologie, um neue Formen der Kirche und der Gemeinde ging, die er mit uns diskutierte. In seinen Händen sah ich auch das erste Mal die damals sehr verbreitete „Mao-Bibel“, die er uns zwar nicht ans Herz legte, aber offensichtlich beschäftigte er sich damit…“
Aus diesen Gesprächsrunden entwickelten sich im Laufe der Jahre aktives gesellschafts- und sozialpolitisches Engagement. Ab Ende der 60 er Jahre gehörten sonntägliche Aktionen vor und nach dem Hauptgottesdienst zu Problemen der Dritten Welt, zur Kritik des „Konsumterrors“, zur notwendigen nationalen Befreiung ehemaliger Kolonien usw. zum Standardprogramm der jungen Gruppenleiter und auch Gruppenleiterinnen.
Diese Entwicklung sah die eher konservativ bleibende „Erwachsenengemeinde“ kritisch. Das „politische Treiben“ der „Jungen Gemeinde“ passte nicht in das kirchliche und gesellschaftliche Selbstverständnis der Elterngeneration. Ein eher libertäres sexuelles Selbstverständnis, neue „antiautoritäre pädagogische Konzepte, demokraktische Veränderungen in der Leitungssttruktur der Jugendarbeit usw. usf. schufen eine Situation in der Gemeinde, die zwangsläufig auf einen tiefgehenden politischen und generationspolitischen Konflikt zusteuern musste.
Die libertären 60 er Jahren zogen nun auch ins katholische Milieu ein. Aus dem „Führerkreis„ wurde ein demokratisches „Leitungsteam“, Formen und Inhalt der Jugendarbeit passten sich mehr und mehr dem Zeitgeist der „68er“ an.